Hilfsprojekte sind dann am effektivsten, wenn der Mensch im Zentrum steht. Was einen menschenzentrierten Ansatz ausmacht, beschreibt David Verboom, Leiter von Medair International.

Ich habe den Wechsel von der Privatwirtschaft in die humanitäre Arbeit nie bereut. Mein erster humanitärer Einsatz führte mich vor 22 Jahren in den von Krieg und Hunger gezeichneten Sudan. Seither ist viel geschehen: Ich war bei zahlreichen Nothilfeeinsätzen auf der ganzen Welt mit dabei – einschließlich des Tsunamis in Asien und der Syrienkrise im Nahen Osten.

Eine der wichtigsten Lehren, die ich aus meinen mehr als zwei Jahrzehnten humanitärer Hilfe gezogen habe, ist, dass trotz des ganz eigenen Charakter jeder Krise, die Hilfsmaßnahmen immer am effektivsten sind, wenn der Mensch im Zentrum unserer Bemühungen steht.

Der Mensch im Fokus der humanitären Hilfe. In der Theorie klingt das naheliegend und vollkommen logisch. In der Praxis jedoch ist es nicht so einfach. Im Krisenfall gilt es, unmittelbar zu reagieren – auch, wenn oft die Finanzierung des Einsatzes noch nicht geklärt ist. Dadurch entsteht ein enormer Druck. Den Einzelnen immer im Blick zu behalten, wenn das Geld knapp ist und die Zeit drängt, ist oft alles andere als einfach.

Da die Zahl der Hilfsbedürftigen in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat, ist auch das humanitäre Hilfsystem gewachsen. Es droht die Gefahr, dass es sich zu einer richtiggehenden „Hilfsindustrie“ entwickelt. Das bereitet mir Sorgen. Wir müssen unbedingt verhindern, dass die Finanzierung und die reibungslose Durchführung unserer Projekte einen höheren Stellenwert erhalten, als die Menschen, um die es letztlich geht.

Schließlich sind es nicht die gespendeten Gelder, die Gesundheitsleistungen oder die bereitgestellten Unterkünfte, die das Herzstück der humanitären Hilfe ausmachen. Es geht immer um die Menschen. Deshalb glaube ich, dass der humanitäre Sektor wieder vermehrt zu seinen Wurzeln zurückkehren muss. Wir müssen sicherstellen, dass es wirklich die Hilfsbedürftigen selber sind, die uns täglich in unseren Bemühungen antreiben.

Mit diesen fünf Ansätzen kann eine menschenzentrierte humanitäre Hilfe gelingen:

Medair-Apotheker Mohammad spricht mit dem 79-jährigen Waded, der gemeinsam mit seiner Frau vor der Gewalt im Irak geflüchtet ist.

1. Würde wahren

Wenn eine humanitäre Organisation die Empfänger der Hilfe in den Mittelpunkt stellt, muss sie mehr tun, als Hilfsgüter, Ressourcen und Wissen bereitzustellen. Beim menschenzentrierten Ansatz spielt die Würde der Menschen eine zentrale Rolle. Selbst wenn wir große Bevölkerungsgruppen mit Hilfe versorgen, können wir ihre Würde wahren, indem wir unsere Hilfe individuell den Bedürfnissen der Menschen anpassen. Auch ist es wichtig, die Betroffenen in die Projekte mit einzubeziehen und ihnen die Verantwortung für die Verwendung der erhaltenen Hilfe zu übertragen.

Ein gutes Beispiel dafür sind Geldleistungen. Sie werden entsprechend den vorhandenen Bedürfnissen eingesetzt. Familien entscheiden selbst, ob sie das Geld für Miete, Essen oder medizinische Leistungen ausgeben möchten. Wenn sie selbst entscheiden und bezahlen können, bleibt ihr Würde bewahrt. Sie haben zudem die Wahl und legen selbstbestimmt fest, welche ihrer Bedürfnisse besonders dringend sind, anstatt dass andere für sie entscheiden.

Sabta, eine verwitwete Mutter von fünf Kindern und Empfängerin von Geldhilfe, sitzt mit ihrem Sohn in ihrem Haus in Mafraq, Jordanien.

2. Verpflichtung zu Qualität und Verantwortlichkeit

Bei der Hilfe, die sich auf den individuellen Menschen konzentriert, werden Qualität und Verantwortlichkeit großgeschrieben. Das bedeutet, dass wir durchgehend in Kontakt mit den Hilfeempfängern stehen, sie um Feedback bitten, auf Kritik reagieren und ständig in neue, innovative Wege investieren, um den Menschen noch besser helfen zu können. Bei Entscheidungen stimmen wir uns mit den betroffenen Gemeinschaften ab, binden sie mit ein und orientieren uns bei der Gestaltung, Durchführung und Überwachung der Projekte an ihren Gewohnheiten und Lebensbedingungen.

Vergangenes Jahr besuchte ich unser Wiederaufbauprojekt in Nepal. Von der vorbildlichen Zusammenarbeit zwischen Medair, der lokalen Hilfsorganisation CDS sowie der einheimischen Bevölkerung war ich sehr beeindruckt. Für den gesamten Wiederaufbau hielten sich alle Beteiligten an eine traditionelle nepalesische Arbeitsteilung, Armah Parmah. Durch die Berücksichtigung und Einhaltung dieses kulturellen Aspekts wurde das Wiederaufbauprojekt ein großer Erfolg: Die Hilfeempfänger fühlten sich respektiert, denn ihre Traditionen wurden berücksichtigt. Die gemeinsamen Bemühungen haben sämtliche Erwartungen weit übertroffen.

Medair-Mitarbeiterin Wendy unterhält sich mit Gram Bahadur Tamang vor seinem neuen und erdbebensicheren Haus in Nepal.

3. Besonders abgelegene Gemeinschaften mit Hilfe erreichen

Menschen im Fokus – das bedeutet auch, besonders Bedürftige zu versorgen, unabhängig davon, wer sie sind und wie schwer es ist, sie zu erreichen. Im weltweiten Katastrophenbericht 2018 ruft die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften die internationale Gemeinschaft dazu auf, bei ihren humanitären Bemühungen niemanden zurückzulassen – auch dann nicht, wenn die Hilfsbedürftigen in schwer zugänglichen Gebieten leben. Bei Krisen ist es in der Tat meist so, dass die gefährdetsten Menschen gleichzeitig besonders schwer zu erreichen sind. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, sie mit all den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Ihre Bedürfnisse bestimmen unseren humanitären Einsatz – nicht die Hindernisse, denen wir auf dem Weg zu ihnen begegnen.

Im Südsudan gibt es oft keinen anderen Weg, als stundenlang zu Fuß durch den Sumpf zu waten oder sich per Kanu Zugang zu vertriebenen Gemeinschaften zu verschaffen. Nur so können sie mit lebensrettenden Leistungen versorgt werden.

4. Menschlichkeit in jeder einzelnen Aktion

Ein menschenzentrierter Ansatz geht über die physische Hilfe hinaus. Es geht darum, sich Zeit zu nehmen, den Menschen genau zuzuhören, Interesse für ihre Geschichten zu zeigen, für sie da zu sein, mit ihnen zu lachen und zu weinen. Und es geht vor allem auch darum, von ihnen zu lernen.

Als ich vor kurzem das Rohingya-Hilfsprojekt von Medair in Bangladesch besuchte, war ich beeindruckt von den vielen positiven Veränderungen, die unsere Teams mit ihrer Arbeit erzielen. Was mich jedoch noch mehr bewegte, waren all die Menschen, die auf mich zukamen und sagten: „Danke, dass ihr euch Zeit nehmt, uns zuzuhören.“

Es ist wichtig, dass Menschen in Not wissen, dass sie uns nicht gleichgültig sind. Wir zeigen Mitgefühl. Jede Lebensgeschichte will gehört werden und wir schätzen ihre Meinungen und ihre Beiträge.

So beschreibt einer meiner Medair-Kollegen diese Art von menschenorientierter Hilfe treffend:

„Ob man von der Luft aus ein paar Hilfspakete abwirft, oder vor Ort das gesamte Leid und den Stress hautnah miterlebt – das ist ein großer Unterschied. Wenn man jemandem in Not eine warme Decke persönlich überreicht, entsteht ein echter Kontakt, eine echte Begegnung. Man erkennt den Menschen an, schenkt ihm Hoffnung und signalisiert Wertschätzung. Das macht unseren humanitären Ansatz so besonders. Humanitäre Arbeit ohne Wertschätzung? Das geht auch. Dann ist das Ganze lediglich ein Zahlenspiel, getrieben von allen möglichen Motivationen, sich zu engagieren. Doch dann sind Menschen nichts als ein Mittel, die eigenen Ziele zu erreichen. Wenn man aber die Menschen als lebendige, atmende Schöpfungen Gottes betrachtest, verändert das alles. Wenn ich einer dieser Hilfsbedürftigen wäre, wüsste ich, mit welcher Art Mensch ich lieber zu tun hätte. Die wahre Motivation zu bestimmen, weswegen wir Hilfe leisten, ist manchmal gar nicht so einfach. Wo sie jedoch stimmt, manifestiert sich das Gute.”

Die fünfjährige Marion hat sich im Ebola-Behandlungszentrum von Medair in Sierra Leone (2015) von der Krankheit erholt. Auf dem Bild sieht man sie beim fröhlichen Spiel mit Christiana, die bei Medair psychosoziale Hilfe leistet. ©Medair/Michael Duff

5. Die ganze Geschichte erzählen

Beim menschenzentrierten Ansatz geht es selbstverständlich um die direkte Interaktion mit Menschen in Krisen – aber eben auch darum, wie wir über sie berichten. Das Leid der Hilfeempfänger auf simple Bilder hungernder Menschen und zerstörter Landschaften zu reduzieren, mag vielleicht beim Spenden sammeln hilfreich sein, besonders viel Würde bringt man den Menschen auf diese Weise jedoch nicht entgegen.

Viel wichtiger ist es, Menschen in Krisen eine Plattform zu bieten, ihre Geschichte mit anderen teilen zu können. Denn ihr Leben ist viel mehr als die Krise, durch die sie gerade gehen. Oft sind es starke, widerstandsfähige Menschen, die über ihr Leid, aber auch über ihre Hoffnungen und Träume berichten möchten. Als Hilfsorganisation tragen wir die Verantwortung für eine ausgewogene, ehrliche Berichterstattung – und dafür, dass die Stimmen der Menschen, denen wir helfen, vollumfänglich gehört werden. Auch das ist menschenzentrierte Hilfe.

Die oberste Priorität

Die „Hilfsindustrie“ kann uns zwingen, uns mit Finanzierung, Budgetierung und einer enormen Bürokratie auseinanderzusetzen. Bei der humanitären Hilfe geht es jedoch um viel mehr als um das Erreichen von Indikatoren und Monatszielen. Ein gutes Gleichgewicht zu finden, war noch nie einfach – und wird es auch nie werden. Unsere Arbeit gut zu machen, verlangt uns viel ab: Wir müssen verletzlich und ehrlich sein, offen für Feedback, unsere Leistungen kontinuierlich ausweiten und verbessern, uns Zeit nehmen, den Geschichten und Anliegen der Menschen zuzuhören und die uns anvertrauten Schicksale in einen breiteren Kontext einzuordnen.

Oberste Priorität gilt jederzeit den Menschen in Not. Wir müssen die Würde der Menschen wahren und versuchen, sie in dieser schwierigen Zeit ihres Lebens zu unterstützen, damit sie wieder ein selbstbestimmtes Leben führen können. Darum geht es – und darum bin ich heute noch genauso engagiert und motiviert, wie vor 22 Jahren, als ich für meinen allerersten Einsatz aus dem Flugzeug stieg.

Medair-Mitarbeiter untersuchen Angara Kiir in einem Malaria-Notfallzentrum im Südsudan. ©Medair/Albert Gonzalez Farran

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