Menschen sind das Herzstück der humanitären Hilfe. Davon bin ich fest überzeugt. Es inspiriert mich sehr, mich den Menschen auszutauschen, denen Medair helfen kann – oder vor Jahren neue Hoffnung geben konnte. Deshalb ist die Geschichte von Anuol für mich eine ganz besondere. Vor 22 Jahren lernte ich den damals noch kleinen Jungen kennen. Medair half ihm und seiner Familie beim Überleben. Heute ist aus dem Kind ein Anwalt im Kampf für die Gerechtigkeit geworden.

Es war mein allererster Hilfseinsatzes mit Medair im Süden des damaligen Sudan. Ich stand ganz am Anfang meiner Laufbahn in der humanitären Hilfe. In meiner heutigen Funktion als internationaler Geschäftsführer am Hauptsitz von Medair in der Schweiz reiste ich vor Kurzem in den heutigen Südsudan zu einem Projektbesuch. Nach zwei Jahrzehnten traf ich dort Anoul wieder.

Es war ein freudiges Wiedersehen. Schon damals hatte mich das Kind sehr beeindruckt – auch wegen seines großen Lerneifers und seines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns. Dass das Leben nicht immer “fair” ist, musste Anuol schon früh erfahren. Er wuchs mit seiner Familie in einer abgelegenen Region im Süden des Sudan auf. Als der Bürgerkrieg ausbrach, stürmten Soldaten sein Dorf. Vor seinen Augen töteten sie seine besten Freunde. Wie durch ein Wunder entkam der Junge.

Doch seitdem war sein Alltag ein einziger Überlebenskampf. Ob es am Abend etwas zu essen geben würde, wusste die Familie nie. Und wenn jemand erkrankte, gab es keine medizinische Versorgung. Fünf enge Verwandte starben. Kurz darauf begann Medair ein Projekt in Anuols Dorf. Er erinnert sich heute noch genau daran: „Medair gab uns Hoffnung. Die Helfer waren sehr freundlich und sehr empathisch. Wir fühlten, dass sie unsere Erfahrungen genau nachvollziehen konnten, so als hätten sie dasselbe Trauma erlebt wie wir.”

Mitarbeitende von Medair waren vor vielen Jahren bereits in Anuols Dorf im Einsatz. 

Nach dem verheerenden Angriff auf ihr Dorf gab seine Mutter Anoul ein besonderes, symbolisches Geschenk. Einen Kugelschreiber. Bildung war ihr außerordentlich wichtig. Sie wollte ihren Sohn unbedingt in die Schule schicken. Eine Mitarbeiterin von Medair bemerkte seinen großen Wissensdrang. Sie setzte sich abends zu ihm und brachte ihm Englisch und Mathematik bei. Anoul war ein begabter Schüler. Doch die Sicherheitslage im Land wurde immer schlechter und er musste fliehen. Der Junge landete in einem Flüchtlingslager in Kenia. Aber auch dort waren Mitarbeitende von Medair vor Ort, die ihn unterstützen, sodass er die Schule in Kenia erfolgreich beenden konnte.

Sein Fleiß zahlte sich aus: Anuol schaffte es aufs Gymnasium und verließ sein Land wenig später, um in Großbritannien Jura zu studieren. Dass er einmal Anwalt werden wollte, wusste er von Kindesbeinen an. Er träumte von einem fairen, zuverlässigen Rechtssystem in seinem Land – und wollte seinen Beitrag dazu leisten.

Anuol schließt sein Jurastudium in Großbritannien ab.

Eine vielversprechende berufliche Zukunft stand dem intelligenten jungen Mann offen. Nach seinem Studium begann er, in England als Anwalt zu arbeiten. Bald darauf wurde er an den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Den Haag berufen. Die Erfahrungen und das im Ausland gesammelte Wissen halfen ihm sehr, als er Jahre später in seine Heimat zurückkehrte. Er hatte sich dafür entschieden, Menschen zu helfen, die nicht dieselben Möglichkeiten bekommen hatten wie er. Und denjenigen zu danken, die ihn all die Jahre unterstützt hatten.

Er gründete eine eigene Kanzlei und begann, einheimische Juristen auszubilden. Das tut er bis heute. Auch gründete er eine Stiftung, die Kindern eine Schulbildung ermöglicht. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, was diese Kleinen durchmachen. Ich kenne ihr Leid und ihren Schmerz nur zu genau“, erzählt er mir. Seine Augen leuchten: „Durch Bildung können diese Kinder zu kleinen Botschaftern heranwachsen, die im Südsudan einen echten Wandel herbeiführen.“

Anuol und ich sind uns einig. Letztendlich geht es immer um Menschen. Er hätte auch den einfachen Weg wählen und sich für ein bequemes Leben in Europa entscheiden können. Doch er tat das Gegenteil. Er setzt seine ganze Kraft dafür ein, den Menschen in seinem Land eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Als humanitäre Helfer stellen wir Hilfsgüter und Dienste bereit. Doch unsere Arbeit umfasst so viel mehr. Es geht darum, Menschen wieder auf die Beine zu helfen und ihnen in schwierigen Zeiten neue Hoffnung zu geben. Dabei ist es wichtig, in jeden einzelnen Menschen zu investieren. Die Geschichte von Anuol zeigt, welch große Bedeutung ein einzelner kleiner Junge für seine gesamte Gemeinschaft haben kann.

Das Lebensmotto von Anuol lautet: „Lebe einfach, setz dir hohe Ziele, glaube an Gott und bewahre die Hoffnung für die Zukunft“. Ein schöner Leitsatz, mit dem ich mich zu hundert Prozent identifizieren kann.

"Ich weiß, was diese Kleinen durchmachen. Ich kenne ihr Leid und ihren Schmerz nur zu genau. Aber durch Bildung können diese Kinder zu kleinen Botschaftern heranwachsen, die im Südsudan einen echten Wandel herbeiführen." Anwalt Anoul