Berichte Ukraine
Unter Gottes Flügeln
Unser Kommunikationsbeauftragter in der Ukraine Sviatoslav Rodiuk berichtet über die Begegnung mit einem Pastor in Butscha.
Ich treffe Serhiy im Hof der Kirche. Es wird langsam dunkel und der Pastor lädt mich freundlich ein, hineinzukommen. Wir gehen schon auf das Gebäude zu, da wird unser Gespräch von einer Passantin unterbrochen. Sie steht am Tor und fragt, ob sie einen Kiefernzweig mitnehmen darf. Serhiy erklärt, dass die riesige Kiefer im Hof der Kirche krank gewesen sei und kürzlich gefällt werden musste, damit sie nicht auf die Straße fällt. Er bittet die Frau in den Hof und bricht eigenhändig einige Äste ab. Freude breitet sich auf dem Gesicht der Frau aus. Sie werde die Zweige in eine Vase stellen, als Erinnerung daran, dass sie beschützt werde, erklärt sie uns. Dass ihr Haus während der Kampfhandlungen nicht beschädigt wurde ist für sie ein Wunder. Sie macht sich auf den Heimweg und Serhiy lädt mich in die Küche im Keller der Kirche ein. Er kocht etwas Tee mit Zimt, und der Duft erfüllt sogleich den Raum. Dann fängt er an, zu erzählen.
„Seit meiner Kindheit bin ich ein religiöser Mensch. Mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater waren alle Priester. Meinen Kirchendienst begann ich vor mehr als 20 Jahren, als die Vifaniia-Kirche gerade gebaut wurde. Sie ist die erste evangelische Kirche in Butscha. Bis zum 24. Februar, als der Konflikt begann, verband ich nur gute Erinnerungen mit diesem Ort“, sagt Serhiy.
Beginn des Konflikts
Der Pastor wurde von den vibrierenden Fenstern seiner Wohnung aus dem Schlaf gerissen. Er hörte Explosionen. „Mir wurde klar, was da gerade seinen Anfang nahm. Als meine Familie aufwachte, schickte ich sie sofort in die Kirche. Zwei Wochen zuvor hatten wir bereits verkündet, dass im Falle eines plötzlichen Konflikts die Menschen in der Kirche unterkommen könnten. Wasser, Lebensmittel und einen Generator hatten wir bereits gekauft. Wir nahmen an, dass die Situation sehr schnell vorbei sein würde und dass etwa 50 Menschen kommen würden. Wir hatten Vorräte für nur zwei Tage“, erklärt Serhiy und gibt Zucker in eine Tasse. Er erzählt auch von einem Gespräch zwischen ihm und seiner Frau. Er hatte sie gebeten, ihre drei Kinder an einen sicheren Ort zu bringen. „Sie weigerte sich, ohne mich zu gehen. Also blieben wir in Butscha“, sagte Serhiy mit einem Anflug von einem Lächeln.
„Wir haben Panzer gesehen, wir haben Explosionen gehört. Verängstigte Menschen rannten durch die Straßen, auf der Suche nach einem Versteck. Sie klopften an die Tür und baten um Einlass. Und so waren dann innerhalb weniger Tage 170 Menschen in unserer Kirche untergebracht. Die Vielfalt war erstaunlich! Unter uns waren Christen, Muslime, Orthodoxe, Zeugen Jehovas und sogar Atheisten, und alle kamen gut miteinander zurecht“, sagt Serhiy. Die Kirche bot einen sicheren Unterschlupf für Menschen jeden Alters, ob für ein sechs Monate altes Baby oder eine 92-Jährige Grossmutter.
„Anfangs reichte das Essen für alle. Als wir aber immer mehr wurden, hatten wir Angst, dass wir nicht mehr jeden versorgen könnten. Als es überhaupt keine Lebensmittel mehr gab, zog meine Frau während des Bombardements mit einem Diakon los, um Lebensmittel aus den Häusern der Menschen zu holen, die sich bei uns im Keller befanden. Sie gaben meiner Frau ihre Schlüssel und sagten ihr, wo die Lebensmittel gelagert waren. Wir machten uns große Sorgen, dass uns das Brot ausgehen würde. Aber Gott half uns. An jenem Abend legte jemand eine große Tüte Brötchen in die Nähe des Zauns der Kirche“, erzählt Serhiy.
Während der Besatzung
Ungefähr eine Woche nach Beginn des Konflikts fiel der Strom aus. Vom Keller der Kirche konnten wir draußen die Soldaten hören. Eines Tages kam ein Offizier herein. Möglicherweise hatte der Generator ihn auf die Unterkunft aufmerksam gemacht. Das Gerät wurde nur zweimal am Tag eingeschaltet, damit die Menschen ihre Handys aufladen konnten. Nach einer kurzen Überprüfung von Serhiys Papieren wies der Offizier die Leute an, so lange wie möglich drinnen zu bleiben. Auch empfahl er ihnen, keine schwarze Kleidung zu tragen.
Serhiy erzählt von den Dingen, die er auf den Straßen von Butscha gesehen hat, und von der verzweifelten Suche nach mehr Nahrungsmitteln. „Ich habe Lebensmittel aus zerstörten Geschäften mitgenommen. Sie waren schon verdorben, aber wir mussten sie essen, weil es nichts anderes gab“, sagt Serhiy. Man sieht die Traurigkeit in seinen Augen.
Er hält einen Augenblick inne, dann wendet er sich positiveren Momenten zu. Auch bei so vielen Menschen im Keller fühlten sich alle wohl, berichtet er. Sie wechselten sich mit Putzen, Kochen und Bücherlesen ab. Er habe versucht, einige Aktivitäten zu initiieren, um die Leute abzulenken. Gleichzeitig sei ihm klar gewesen, dass sich die Situation zuspitzte. Die fehlenden Lebensmittel seien ein großes Problem gewesen.
„Wir haben 14 Tage in unserem Unterschlupf gelebt, bis wir feststellen mussten, dass wir hier nicht länger bleiben konnten. Wir brauchten eine Rettung. Wir setzten alle Leute in Autos und fuhren in einer Kolonne. Das nannten wir den „grünen Korridor“. Ich betete zu Gott, dass alle überleben“, so Serhiy.
Zurück nach Hause
„Wir haben Leichen gesehen; sie lagen auf der Straße und in Autos. Meine Frau verdeckte mit ihren Händen die Augen unserer 4-jährigen Tochter, um sie vor dem Schrecken zu schonen. Wir erfuhren, dass unsere Wohnung abgebrannt war. In einem einzigen Augenblick verloren wir alles, was wir besaßen„, sagt Serhiy.
Serhiy und seine Familie kehrten so schnell sie konnten – etwa einen Monat später – nach Hause zurück. Da ihr Haus zerstört worden war, kamen sie wieder im Keller der Kirche unter. Mir wird bewusst, dass ich nun mit Serhiy in demselben Keller aus seinen Geschichten sitze, und ich bekomme Gänsehaut. Ich versuche, mich in die Lage dieses Mannes zu versetzen und weiß, dass mir die Geduld, die Kraft und der Mut fehlen würden, um diese Strapazen zu überstehen.
„Wir haben hier sogar den Geburtstag meiner Tochter gefeiert“, sagt er. „Schau, da drüben haben wir Peppa Pig an die Wand gemalt, das ist ihr Lieblings-Cartoon“, sagt Serhiy mit einem Lächeln. „In dieser Zeit habe ich vieles neu überdacht, insbesondere den Wert des Lebens. Mein Glaube an Gott ist gestärkt worden. Du lernst, Tag für Tag zu leben und dankbar zu sein für jede kleine Sache, die du hast. Viele Bekannte außerhalb der Ukraine haben uns zu sich eingeladen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich hier sein soll.“
„Als Pastor sehe ich, dass manche Menschen weder Hoffnung noch Glauben in sich tragen. Ich wünsche mir, dass die Menschen Frieden und Liebe in ihren Herzen finden“, sagt Serhiy.
MEDAIR kam in Butscha an, kurz nachdem das Gebiet befreit worden war. Die Häuser in der Gegend hatten weder Strom noch Wasser, und viele waren beschädigt oder geplündert worden. Die Kirche blieb ein Ort, an dem die Menschen Hilfe suchten. Unser Team besorgte eine Waschmaschine, einen Trockner, einen Gasherd, eine Mikrowelle und eine Spülmaschine für die Küche in der Vifaniia-Kirche. Menschen, die anderen helfen, wurden in psychologischer Erster Hilfe geschult.
„Diese Schulungen waren sehr hilfreich für mich. Eine Frau kam in die Kirche und sagte zu mir: „Mein Mann wurde vor meinen Augen getötet.“ Das ist keine Seltenheit. Jetzt weiß ich, wie ich mit diesen Menschen sprechen und wie ich ihnen helfen kann. Ich sage ihnen immer, dass wir das gemeinsam durchstehen“, sagt Serhiy.