Berichte Libanon
Auch die Seele muss heilen können
Im libanesischen Bekaa-Tal bietet MEDAIR Sitzungen zur psychischen Gesundheit für Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihre Betreuungspersonen an.
Die Situation im Libanon hat schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit vieler Menschen. Nicht nur auf Erwachsene, sondern auch Jugendliche und insbesondere Menschen mit besonderen Bedürfnissen und deren Betreuungspersonen sind betroffen. Die Krise im Nahen Osten, zivile Unruhen, Wirtschaftskrise und die COVID-19-Pandemie haben dazu geführt, dass sich Lebensumstände der im Libanon lebenden Menschen dramatisch verschlechtert haben. Viele befinden sich in existentiellen Schwierigkeiten und können sich grundlegende Dinge wie Lebensmittel, Wasser und medizinische Versorgung nicht mehr leisten – mit dramatischen Folgen für die psychische Gesundheit. Großer Stress, Traumata und Depressionen setzen den Menschen erheblich zu.
Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihre Betreuungspersonen sind von den sich verschlechternden Bedingungen im Libanon besonders betroffen. Viele der Betreuenden kämpfen darum, ihre eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig für ihre Angehörigen zu sorgen. Gefühle der Erschöpfung, Schuld und Hilflosigkeit sind die Folge. Darüber hinaus kann es sein, dass die Pflegenden keinen Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und Ressourcen haben, wie etwa zur Gesundheitsversorgung, die sie für die Pflege ihrer Angehörigen benötigen, was wiederum zu erhöhter Angst und Stress führt.
Mitte April 2023 hatte ich das Privileg, einer Selbsthilfegruppe für psychische Gesundheit beizuwohnen, die vom MEDAIR-Team für psychische Gesundheit veranstaltet wurde. Die Gruppe bestand aus zehn Personen verschiedener Nationalitäten, darunter Personen aus Syrien und dem Libanon im Alter zwischen 25 und 40 Jahren. Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit der Development Indicators Association (DIA) durchgeführt. DIA ist eine Organisation in Chtoura im libanesischen Bekaa-Tal, die sich für die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen einsetzt. Geleitet wird sie von Dr. Fayez. Er ist Libanese und lebt selbst mit einer Behinderung. Dr. Fayez und ich sprachen über die Bedeutung der Inklusion und über das Ziel von DIA, das darin besteht, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Mensch unabhängig von seinen individuellen Fähigkeiten willkommen ist und respektiert wird. Die Organisation ist bestrebt, ein integratives Umfeld zu schaffen, das die Vielfalt zelebriert und die Akzeptanz aller fördert.
„Der Libanon ist immer noch ein wenig altmodisch, wenn es um Akzeptanz und Integration geht“, sagt Dr. Fayez. „Wir reden immer noch über Inklusion, als ob sie etwas Unerreichbares wäre.“ Inklusion sei das Recht aller Menschen. „In den Augen Gottes wurden wir alle gleich geschaffen. Niemand sollte wegen einer Behinderung oder aus anderen Gründen ausgeschlossen oder anders behandelt werden“, unterstreicht der 42-Jährige. Jeder verdiene die gleichen Chancen und Rechte, unabhängig von seinen Fähigkeiten oder seiner Behinderung. Um eine Welt zu schaffen, die alle Menschen einbezieht und respektiert, sei es wichtig, die Vielfalt zu verstehen und zu akzeptieren. „Unsere Aufgabe besteht darin, dies zu erreichen, indem wir die notwendigen Schritte unternehmen und den Rahmen für die Zukunft schaffen. Es ist eine Tatsache, dass die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen ein grundlegendes Menschenrecht ist.“
Nach meinem Gespräch mit Dr. Fayez folgte das Treffen der Selbsthilfegruppe. Als ich den Raum betrat spürte ich die Anspannung der Teilnehmenden, denn die Sitzung zur psychischen Gesundheit sollte gleich beginnen. Die Teilnehmenden, die alle spezielle Bedürfnisse hatten, waren gespannt darauf, mehr über den gesunden Umgang mit negativen Gedanken zu erfahren. Geleitet wurde die Sitzung von den MEDAIR-Mitarbeitenden Fatima und Rayan. Auf klare aber einfühlsame Weise sprachen sie mit der Gruppe darüber, wie wichtig Selbstfürsorge ist und welche Kraft hinter positivem Denken steckt. Im Verlauf der Sitzung konnte ich beobachten, wie sich alle aktiv an der Sitzung beteiligten, ihre eigenen Erfahrungen mitteilten und Einblicke in ihre eigenen Bewältigungsmechanismen gaben.
Besonders beeindruckt war ich von den positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden. Viele erzählten, wie bedeutungsvoll es sei, in die Gespräche mit einbezogen zu werden, und welche positive Auswirkungen die Sitzungen bereits auf ihr Leben hätten. Dank der erlernten Strategien sei der Alltag um einiges leichter zu bewältigen. Auch merkte ich, dass die Menschen großen Nutzen aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ähnlichen Interessen zogen.
„Als ich zum ersten Mal kam, hielt ich nicht viel von den Sitzungen. Aber allein dadurch, dass ich gemeinsam mit anderen Leuten teilnahm, fühlte ich mich bereits akzeptiert und zugehörig“, berichtet Hassan. Das sei mit der Zeit immer besser geworden. „Ich habe gemerkt, dass ich in diesen Sitzungen gefunden habe, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte, als ich in meinem persönlichen Leben mit Problemen kämpfte. Ich habe erkannt, dass es etwas anderes ist, mit Hilfsmitteln zu kämpfen, als ohne sie zu kämpfen“, erzählt der 36-Jährige, Mitglied der syrischen Gemeinschaft und Person mit besonderen Bedürfnissen, und zusammen mit seiner Mutter Leila an der Sitzung teil.
Hassan erzählte mir, dass er sich im Laufe der wöchentlichen Sitzungen immer mehr für das, was gelehrt wurde, interessierte. Es ermutige ihn, die erlernten Techniken in seinem Alltag anzuwenden. Leila, seine Mutter, bestätigt die Veränderungen in Hassans Charakter und seine verbesserte Fähigkeit, Schwierigkeiten zu bewältigen: „Nach der dritten Sitzung bemerkte ich eine Veränderung bei meinem Sohn und ein neues Gefühl der Gelassenheit. Es war, als hätte er sich über Nacht verändert“, freut sich Leila. Sie sei sehr stolz darauf, mitzuerleben, wie er sich bemühe, sich zu verbessern, und zum ersten Mal beginne er, sich als Teil seiner Gemeinschaft zu fühlen. Auch der gemeinsame Besuch der Therapie habe einen positiven Aspekt gehabt und zu einer stärkeren Beziehung zwischen beiden geführt.
Auch Wourroud ist wie Hassan Mitglied der libanesischen Gemeinschaft für Personen mit besonderen Bedürfnissen. Sie berichtet ebenfalls von den positiven Auswirkungen der Sitzungen auf ihr tägliches Leben: „Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, an den Sitzungen teilzunehmen, und ich muss sagen, dass sie für mich unglaublich nützlich waren. Als jemand, der besondere Bedürfnisse hat, wollte ich sicherstellen, dass ich das meiste aus den Sitzungen heraushole und verstehe, wie ich mit schwierigen Situationen richtig umgehen kann“, erläutert die 40-Jährige. Das Leben werde von Tag zu Tag schwieriger. Es gebe viele Stressfaktoren, die unser Gehirn verarbeiten müsse. „Wenn man nicht mit den richtigen Werkzeugen ausgestattet ist, kann man leicht in Stress geraten und in Depressionen verfallen. Die Sitzungen haben mir das Wissen und die Fähigkeiten vermittelt, um dies zu vermeiden, und ich werde gerne weiter daran teilnehmen.“
Für andere Teilnehmende wie Najah, eine 21-jährige Palästinenserin mit besonderen Bedürfnissen, waren die Sitzungen eine Gelegenheit, aus ihrem Schneckenhaus auszubrechen und neue Freunde zu finden. „Diese Sitzungen hatten einen sehr positiven Einfluss auf mich. Das Zusammensein mit anderen Menschen, die die gleichen Probleme haben, hat mein Leben verändert. Früher war ich ziemlich isoliert und hatte kein Interesse daran, Freundschaften zu schließen oder mich mit anderen auszutauschen. Mein Zuhause war kein besucherfreundlicher Ort. Wenn ich mich jetzt anschaue, bin ich erstaunt, wie sehr ich mich in so kurzer Zeit verändert habe. Die Sitzungen waren auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten, und die Übungen waren für unsere Herausforderungen sehr relevant.“
Seit kurzem unterstützt das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland ein MEDAIR-Projekt im Libanon, um die psychosozialen Auswirkungen der von den Krisen betroffenen Menschen zu verringern.