Berichte Südsudan
Auf in den Sudd
Stefan Kewitz, Leiter Regionale Kommunikation, berichtet über einen Nothilfeeinsatz in den Sümpfen des Südsudan.
„Alle waren sich sicher, dass ich sterben würde“, erinnert sich Gabriel mit Angst in den Augen. Es war Anfang September 2022, als er aufgrund einer Malariaerkrankung zusammenbrach und ins Koma fiel. Wenn die Regenzeit ihren Höhepunkt erreicht, sind die weiblichen Anopheles-Mücken, die die tödliche Infektion durch einen Parasiten übertragen, fast überall und immer auf der Jagd nach menschlichem Blut. Nachdem Gabriel gestochen worden war, bekam er sehr hohes Fieber und litt unter Schmerzen am gesamten Körper. „Es wurde von Minute zu Minute schlimmer“, schildert er.
Gabriel ist 52 Jahre alt und Vorsteher eines der vielen kleinen abgelegenen Dörfer am Ufer des Sudd. Das größte Sumpfgebiet Afrikas erstreckt sich vom Norden bis ins Zentrum Südsudans. Einst war es ein sicherer Zufluchtsort für durch Konflikte vertriebene Menschen, denn es war für Angreifer schwer zu erreichen und bot reichlich Ressourcen für Mensch und Vieh. Doch durch die ständig zunehmenden saisonalen Überschwemmungen und die damit einhergehende Verwüstung der Infrastruktur änderte sich das Leben für die Menschen in der Region Nyal Payam dramatisch. Das Vieh kam im Wasser um, an traditionellen Anbau war fast nicht mehr zu denken und die Überschwemmungen schnitten den Zugang zu sauberem Trinkwasser und selbst zu den grundlegendsten Gesundheitsdiensten ab.
Die Situation verschlimmerte sich, als aufgrund reduzierter internationaler Finanzhilfe für die Krise im Südsudan einige der wenigen Gesundheitseinrichtungen, die für die abgelegenen Dörfer im Sumpfgebiet erreichbar waren, geschlossen wurden. „Meine Familie wollte mich zur nächsten Gesundheitseinrichtung bringen, doch die war viel zu weit entfernt und ich war zu schwach für die lange Kanufahrt“, erzählt Gabriel. Vielen Menschen im Sudd ergeht es nicht anders. Aufgrund mangelnder Hilfe und fehlender medizinischer Anlaufstellen stieg die Zahl der Toten in Dörfern wie Meer, wo Gabriel lebt, in den vergangenen Monaten dramatisch an.
„Unsere Bewertung ergab eine hohe Zahl an tödlichen Malariafällen in allen Altersgruppen2, erklärt die Gesundheitsmanagerin von MEDAIR Emelda. „Am meisten beunruhigte uns die hohe Zahl an Todesfällen bei Kindern“, fügt sie hinzu. „Es sind Auslöser wie diese, die unser Nothilfeteam dazu veranlassen, unverzüglich Hilfe zu leisten.“
Emelda und ihr Team arbeiten unermüdlich, um in diesem Nothilfeeinsatz so viele Leben wie möglich zu retten. Ein Teil des Nothilfeteams von MEDAIR zu sein ist für sie alle mehr als nur ein Job. Es ist eine Berufung, eine Mission, den bedürftigsten und vernachlässigten Menschen in Krisen Hilfe und Hoffnung zu bringen. Es ist ein tiefes Engagement, das für sie bedeutet, in sengender Hitze unzählige Stunden in kleinen, wackligen Kanus zu verbringen, um die Dörfer zu erreichen, und dabei ständig aufpassen zu müssen, nicht in den Sumpf zu fallen. Es bedeutet, überall dort, wo Kanus nicht passieren können, zu Fuss über rutschige, überwucherte Wasserläufe zu marschieren. Es bedeutet, monatelang unter einfachsten Bedingungen in einer sehr armen und oft unsicheren Umgebung weit weg von der eigenen Familie zu leben. Doch zu sehen, wie Kinder wieder gesund werden und die Menschen durch die Hilfe neue Zuversicht und Hoffnung auf bessere Zeiten schöpfen, lässt sie die schwierigen Arbeitsbedingungen vergessen.
Selbst in zeitkritischen Gesundheitsnotfällen beziehen die Mitarbeitenden von MEDAIR die betroffenen Gemeinschaften so weit wie möglich ein, um nachhaltige Hilfe zu gewährleisten und lokale Kapazitäten für die Bewältigung zukünftiger Krisen aufzubauen. „Hier in Nyal schulen und beliefern wir die kommunalen Gesundheitshelfenden, damit sie den anderen Gemeinschaftsmitgliedern medizinische Hilfe leisten können. Wir bringen ihnen bei, wie man Krankheiten wie Malaria, Lungenentzündung oder Durchfall diagnostiziert und behandelt, und verteilen Medikamente. Unsere Aufgabe hier ist es, zu beaufsichtigen und zu begleiten. Wir zeigen ihnen, wie sie ihre Mitmenschen schützen können. Es macht sie stolz, ein proaktiver Teil der Lösung zu werden, und es stärkt ihr Selbstvertrauen, selbst handeln zu können und weniger auf Hilfe angewiesen zu sein. Das gibt den Menschen Hoffnung und neue Kraft, die viel länger anhalten als unser Einsatz.“
In Yup, einem Dorf nicht weit von Meer entfernt, ist John einer der temporären freiwilligen MEDAIR-Mitarbeitenden, die sich in ihren eigenen Gemeinschaften einsetzen. Als sogenannter „Community-Based Distributor“ testet John die Patienten auf verschiedene Krankheiten, verteilt die passenden Medikamente und informiert über deren korrekte Anwendung. „Ich arbeite seit August für MEDAIR“, erzählt er. „Ich teste die Personen, die mit Symptomen zu uns kommen, und gebe ihnen Medikamente, wenn der Test sie als Malaria-positiv identifiziert. Seit der Zunahme der Überschwemmungen haben wir mehr Malariafälle, da das Wasser nicht mehr abfliesst und es deshalb mehr Mücken gibt. Wir haben hier auch nicht genug zu essen. Die Menschen sind schwach und leiden sehr, wenn sie krank werden. Seit MEDAIR uns zu Hilfe gekommen ist, hat sich die Situation stark verbessert. Bis dahin hatten wir keinen Zugang zu medizinischer Behandlung. Da ich mein Vieh in den Überschwemmungen verloren hatte, stand ich vor dem Nichts und hatte große Angst vor der Zukunft. Jetzt arbeite ich als kommunaler Gesundheitshelfer für MEDAIR. Dass ich so wieder für meine Familie sorgen kann, macht mich stolz. Meine Mitmenschen von Krankheiten zu heilen ist etwas ganz Neues, das ich gelernt habe, und es gefällt mir sehr.“
Jeden Tag kommen viele Menschen wie Nyaruot und ihre sechsjährige Tochter Nyalual zu John, um sich diagnostizieren und behandeln zu lassen. Das Mädchen weint bei der Ankunft vor Kopfschmerzen. In der Nacht zuvor hatte es hohes Fieber und klagte über Gliederschmerzen. Seine Mutter Nyaruot hatte bereits von der Nothilfe von MEDAIR gehört und wusste, wohin sie ihre Tochter bringen musste. „Wir wohnen hier sehr abgelegen und seit die Gesundheitseinrichtungen in der Nähe vor einiger Zeit geschlossen wurden, sind die nächsten sehr schwer zu erreichen“, klagt die Mutter. „Alle hier sind froh, dass Sie gekommen sind, um uns zu helfen. Wir haben miterlebt, wie Gemeinschaftsmitglieder auf dem Weg zur nächsten Gesundheitseinrichtung in Nyal starben, weil sie so krank und erschöpft waren. Wir hoffen, dass das dank Eurer Hilfe nicht wieder vorkommen wird.“
John verfügt bereits über Routine in seiner Arbeit. Er beruhigt das Mädchen und führt den Test durch. Schon nach wenigen Minuten zeigt dieser an, dass Nyalual Malaria-positiv ist. Dank der von MEDAIR bereitgestellten Medikamente kann John das Mädchen sofort behandeln, um seine Schmerzen zu lindern und einen noch schlimmeren Verlauf der Infektion zu verhindern. Geduldig und präzise erklärt er der Mutter, welche Medikamente sie ihrer kranken Tochter in den nächsten Tagen geben muss.
Um qualitativ hochwertige Gesundheitsdienste für die Gemeinschaften zu gewährleisten, besucht das Nothilfeteam die abgelegenen Dörfer einmal pro Woche. So erfahren sie von den Menschen, wie sie die Behandlung erlebt haben, und können die kommunalen Gesundheitshelfenden beraten, damit diese sich stetig verbessern können. Die Mitarbeitenden von MEDAIR schulen auch die Gesundheitshelfenden anderer lokaler Partner, um ihre Ausbildung aufzufrischen und sicherzustellen, dass ihr Wissen und ihre Kenntnisse über den vorübergehenden Einsatz von MEDAIR in dieser Gegend hinaus erhalten bleiben.
„Euch habe ich es zu verdanken, dass ich noch leben“, resümiert Gabriel, der Gemeinschaftsvorsteher von Meer, die Situation. „Weder ich noch meine Gemeinde haben je an Medikamente oder diese Art der Medizin geglaubt. Doch ohne diese Medikamente säße ich jetzt nicht hier und spräche mit Euch. Alle waren überrascht und froh, dass ich überlebt habe. Und alle sind jetzt aufgrund meines Falls davon überzeugt, dass Eure Art der Behandlung mit Medikamenten wirkt. Wir wissen nun, wie wichtig Medikamente und eine professionelle Behandlung sind.“
Als das Nothilfeteam von MEDAIR den Sudd nach einem dreimonatigen Einsatz verließ, übertrug es die Dienste für diese abgelegenen Gemeinschaften in Nyal einer Partner-NGO. In einem Land, in dem 2023 voraussichtlich 76 % der Bevölkerung humanitäre Hilfe benötigen wird, ist das Nothilfeteam von MEDAIR gut aufgestellt, um auch weiterhin Menschen in den entlegensten Gebieten zu erreichen und lebensrettende Hilfe zu leisten.
„Jeder Nothilfeeinsatz hat eine nachhaltige Wirkung“, ist Emelda aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung überzeugt. Wir können nicht alle Probleme auf einmal lösen. Doch jedes einzelne gerettete Leben bewirkt eine grosse Veränderung und lässt die Menschen, denen wir helfen, und auch uns bei MEDAIR neue Hoffnung und Zuversicht schöpfen.“