Carl Adams ist Medair-Landesdirektor in Bangladesch. Er teilt seine Gedanken über die Auswirkungen des Coronavirus im größten Flüchtlingslager der Welt.

Es ist erstaunlich, in welcher Weise sich das Leben hier in Cox’s Bazar innerhalb weniger Wochen verändert hat. Die Straßen, in denen normalerweise reges Treiben herrscht, sind plötzlich menschenleer. Die allgegenwärtigen grünen und gelben Rikschas fahren nur noch vereinzelt. Der Sandstrand von Cox’s Bazar – ein beliebtes Touristenziel – wirkt wie ausgestorben.

Als Nothilfeorganisation stehen wir momentan vor gewaltigen Herausforderungen: Unsere lebensrettenden Hilfsaktivitäten vor Ort müssen weitergeführt werden. Gleichzeitig gilt es, auf die Pandemie zu reagieren und dabei die Sicherheit unserer Mitarbeitenden und der Hilfeempfänger zu gewährleisten. Unsere Teams, die in zwölf Länderprogrammen arbeiten, gehen diese Herausforderungen mit vollem Einsatz an.

Manche Arbeiten müssen jetzt warten

In Bangladesch können wir momentan nur die absolut lebenserhaltenden Maßnahmen anbieten. Zum Beispiel verteilen wir keine Baumaterialien mehr. Mit den Bausätzen können Familien ihre Unterkünfte verstärken und ausbauen. Das hätte sie angemessen vor dem Monsunregen im Juni schützen können.

Im Fokus unserer Arbeit stehen derzeit stark unterernährte Kinder und Mütter und natürlich der Betrieb unserer Gesundheitskliniken. Wir rechnen in nächster Zeit mit einer hohen Zahl von COVID-19-Infizierten. Innerhalb des Flüchtlingslagers vermitteln wir wichtige Gesundheitsbotschaften. Es sind die gleichen Informationen, die überall auf der Welt gelten: Händewaschen, „Social Distancing“ und bei Krankheitsanzeichen Zuhause bleiben.

Blick auf das Flüchtlingscamp Kutupalong – notdürftige Hütten so weit das Auge reicht. (c) Medair/Hailey Sadler

Social Distancing ist unmöglich

Wie soll „Social Distancing“ funktionieren, wenn ganze Familien auf engstem Raum zusammenleben und sich mit zahlreichen Nachbarn eine einzige Toilette oder Handpumpe teilen müssen? Das Risiko, dass sich das Virus unter solchen Bedingungen rasch im Lager ausbreitet, ist extrem hoch.

Unsere Mitarbeitenden tragen Schutzkleidung. Wir überprüfen jeden Tag unsere Körpertemperatur und fahren mit größeren Teambussen statt mit Autos zum Lager, damit wir auch unterwegs die Distanz-Vorschriften einhalten können. Einheimische Mitarbeitende können in unseren Büros oder in der Team-Unterkunft bleiben. Sollten sie sich bei der riskanten Arbeit trotz Sicherheitsvorkehrungen anstecken, gefährden sie nicht weitere Familienmitglieder.

Enge Zusammenarbeit mit anderen Organisationen

Zudem arbeiten wir eng mit anderen Hilfsorganisationen zusammen. Gemeinsam planen wir die verschiedenen Phasen unserer Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie und koordinieren unsere Aktivitäten. Wir wollen den Bedarf bestmöglich und effizient decken. Ziel ist es, die Ausbreitung des Virus so lange wie möglich hinauszuzögern. So bleibt mehr Zeit, um Isolierstationen zu errichten und in Betrieb zu nehmen. Dort können dann Patienten aufgenommen werden, die eine umgehende Behandlung benötigen.

Vor Corona waren die Wege im Camp ständig belebt. Jetzt herrscht angespannte Ruhe. (c) Medair/Hailey Sadler

Alle Prognosen deuten darauf hin, dass auf dem Höhepunkt der Pandemie der Bedarf an Betten, Sauerstoff, Beatmungsgeräten und medizinischem Fachpersonal die Nachfrage übersteigen wird – wir stellen uns auf einige sehr herausfordernde Monate ein.

Zweifellos ist die aktuelle Pandemie für alle Betroffenen weltweit eine große Belastung. Die Rohingya befanden sich jedoch schon vor Ausbruch der Krankheit in einer Notlage. Durch COVID-19 spitzt sich ihre ohnehin prekäre Situation nun ein weiteres Mal zu. Die Rohingya sind stark – und gleichzeitig unglaublich verwundbar: Geflüchtete leben auf engstem Raum zusammen; die Hygienebedingungen sind fatal. Es sieht so aus, dass ihre Chancen im Moment ziemlich schlecht stehen.

„Die Krise betrifft meine Familie genauso wie Ihre“

In vielerlei Hinsicht ist die gegenwärtige Lage einzigartig; sie beschäftigt uns alle – weltweit. Die Krise betrifft meine Familie genauso wie Ihre. Von einem Moment auf den anderen ist eine neue Realität entstanden, welche die Menschen in nahezu allen Ländern weltweit miteinander verbindet. Meine Hoffnung ist, dass sie das Beste in uns hervorbringt. Mir ist bewusst, dass es zurzeit schwer sein mag, sich Gedanken um andere Menschen zu machen. Groß ist die persönliche Unsicherheit vieler von uns: Wann haben wir jemals in eine dermaßen ungewisse Zukunft geblickt?

Dennoch bitte ich Sie heute: Vergessen Sie die Rohingya nicht. Beten Sie für sie oder unterstützen Sie nach Möglichkeit Notleidende mit einer Spende an Medair. Auch wenn es vielleicht klischeehaft klingt: Jeder Beitrag hilft und macht in dieser schweren Zeit Mut. Vielen herzlichen Dank!

Ich hoffe und bete dafür, dass es Ihnen und Ihren Familien gut geht. Mögen wir alle gestärkt aus dieser Krise hervorgehen – insbesondere die Bedürftigsten unter uns.