Berichte Erdbeben Türkei und Syrien
Das Leid aussprechen
Betroffene der verheerenden Erdbeben können in psychologischen Erste-Hilfe-Sitzungen über das Erlebte sprechen und mit der Verarbeitung der Traumata beginnen. Aus Syrien berichtet Abdul Dennaoui, MEDAIR-Kommunikationsbeauftragter
Zwei verheerende Erdbeben, gefolgt von zahlreichen Nachbeben, erschütterten im Februar 2023 die Gebiete im Norden Syriens und im Süden der Türkei. Sie verursachten nicht nur weitreichende Sachschäden, sondern auch unermessliches Leid für die Menschen in dem ohnehin schon krisengeschüttelten Land. Der Verlust, den ein Erdbeben mit sich bringt, ist für Betroffene oft schwer zu verkraften. Deshalb ist die Bereitstellung von psychologischen Erste-Hilfe-Sitzungen zur Bewältigung der psychischen Leiden dieser Menschen von immensem Wert.
Ich bin mit unserem Gesundheitsteam auf dem Weg zum Al-Hamdaniah-Stadion in Aleppo. Vor dem Ausbruch des Syrien-Konflikts war es ein Hotspot für Sportveranstaltungen; seit Februar fungiert es nun als vorübergehende Herberge für 450 durch das Erdbeben vertriebene Familien. Unser Team wird hier heute mit betroffenen Familienmitgliedern psychologische Erste-Hilfe-Sitzungen durchführen.
Ein Erdbeben kann in einem Menschen eine Reihe von Gefühlen hervorrufen, sei es Schock, Verwirrung, Angst oder Hilflosigkeit. Die Überlebenden haben Hab und Gut sowie Familienmitglieder, Kollegen oder Freundinnen verloren. Sie wissen nach so einem einschneidenden Ereignis oft nicht, was sie tun sollen oder an wen sie sich wenden können, um Hilfe zu erhalten. Aus diesem Grund ist in diesen Situationen die Bereitstellung von psychologischer Erste Hilfe so essentiell, und sie gilt grundsätzlich als wichtiger Bestandteil der Erstversorgung nach einem traumatischen Ereignis. Besonders wertvoll ist sie zudem für diejenigen, die keinen Zugang zu professionellen Ressourcen für psychische Gesundheit haben. Psychologische Erste-Hilfe-Sitzungen bieten den Betroffenen ein sicheres und unterstützendes Umfeld, in welchem sie ihre Gefühle ausdrücken und Unterstützung für deren Bewältigung erhalten können.
Je näher wir dem Eingang des Stadions kommen, desto deutlicher werden die Umrisse der Menschenmassen. Der Anblick von so vielen Menschen, die unter diesen Bedingungen leben, ist herzzerreißend. Viele sind schon am Tag des ersten Bebens hierhergekommen, was bereits mehrere Monate zurückliegt. Psychologische Erste Hilfe wird hier dringend benötigt.
Ich begleite Nagham, die Gesundheitsbeauftragte von MEDAIR, bei einer ihrer psychologischen Erste-Hilfe-Sitzungen und lerne so die 45-jährige Noor kennen. Bis zum 6. Februar lebte Noor mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern etwa fünfzehn Autominuten vom Al-Hamdaniah-Stadion entfernt. Durch die verheerenden Erdbeben wurde ihr neues Zuhause komplett zerstört. Nun muss sich die Familie von Tag zu Tag durchschlagen.
„Ich habe erst fünf Tage vor den Erdbeben ein Haus gekauft“, sagt Noor mit Tränen in den Augen und geballten Fäusten. Ich konnte ihren Schmerz in diesem Moment nachempfinden. „Jetzt sind meine Familie und ich obdachlos“, sagt sie und bricht in Tränen aus. Noor braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Nagham tröstet sie. Nach einer kurzen Pause und einem tiefen Atemzug wischt sie sich die Tränen weg und fährt fort: „Es tut gut zu weinen, ich habe das gebraucht. Ich habe alles in mir aufgestaut, und es hat mich von innen heraus aufgefressen. Ein neues Jahr, und es hat unserer Familie schon so viel Unglück gebracht. Das hat unser Leben für immer verändert. Ich möchte nicht wissen, was vor uns liegt“, sagt sie, während sie in die Ferne starrt und über die Zukunft nachdenkt.
Noor erzählt weiter: „Mein Mann und ich haben im Dezember letzten Jahres beschlossen, im neuen Jahr ein neues Haus zu kaufen. Wir sahen, dass sich der Konflikt in Grenzen hielt. Die letzten Jahre waren für mich persönlich wegen COVID gesundheitlich sehr hart gewesen. Daher hatten wir das Gefühl, dass es für unsere Familie der richtige Zeitpunkt war, ein neues Zuhause zu erwerben. Ich war sehr glücklich und freute mich unglaublich über unseren Plan, denn ich wollte schon immer ein Haus für meine Kinder haben. Aber Gott hatte einen anderen Plan für uns“, sagt sie mit erhobenem Kopf.
„Nur fünf Tage vor dem Erdbeben haben wir ein wunderschönes neues Haus neben dem Bustan Al-Qasr Park gekauft, etwa fünfzehn Minuten von hier entfernt. Mein Mann und ich waren überglücklich deswegen. Was dann passierte hätten wir in keiner Weise vorhersehen können“, sagt sie mit emotionaler Stimme, als sie an das traumatische Ereignis zurückdenkt. „Wir steckten noch mitten im Umzug. Wir waren noch nicht ganz eingezogen, es fehlten noch einige Möbel und Küchengeräte. Wir hatten nie die Chance, vollständig umzuziehen und unser Haus richtig zu geniessen. Und das werden wir auch nie.“
Nach einem Moment fügt Noor hinzu: „Sehen Sie mich an! Ich bin eine stolze Hausbesitzerin, die obdachlos geworden ist. Ich kann nicht glauben, dass das die Realität ist. Die Erdbeben haben uns alles genommen. Es war nicht vorgesehen, dass es so kommt. Es ist schwierig, hier zu sein und unter diesen Umständen zu leben.“
Sie beschreibt ihren jetzigen Alltag im Stadion: „Wie Sie sehen können, sind dies keine idealen Lebensbedingungen, und wir kämpfen täglich um das Nötigste wie Essen, Wasser und Medikamente. Ich schlafe dort, wo ich gerade sitze, auf dem Boden, und ich bin nicht mehr jung. Meist sind die Nächte schlaflos, denn es ist hier rund um die Uhr überfüllt. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf, weil Menschen weinen. Das alles macht mich sehr traurig, ängstlich und unruhig. Die Erinnerung an das Erdbeben geht mir immer wieder durch den Kopf und hindert mich am Schlafen. Ich durchlebe den Moment immer wieder in Alpträumen. Ich leide schon an Bluthochdruck und mache mir Sorgen, dass sich all das zusätzlich auf meinen Gesundheitszustand auswirken wird. Unser Zuhause ist weg, und wir können uns nirgendwo mehr hinwenden. Es fühlt sich an, als würden wir das Leid immer wieder neu erleben. Alles, was ich kenne, ist jetzt weg“, sagt sie mit tiefer Traurigkeit in der Stimme.
Nagham versichert Noor, dass ihr Team für sie da ist und alle Fragen zum Zugang zu Gesundheitsdiensten beantworten kann. Abdo, ein MEDAIR-Gesundheitsmitarbeitender aus der Gemeinschaft, überreicht Noor eine MEDAIR-Broschüre. Darin befinden sich Informationen über die Gesundheitsdienste der von MEDAIR unterstützten Einrichtung für medizinische Grundversorgung in Salah El Din, in der Nähe des Stadions. Dort können Noor und andere Betroffene kostenlos Leistungen wie Ultraschalluntersuchungen und Arztbesuche in Anspruch nehmen sowie Medikamente erhalten.
Am Ende der Sitzung bestätigt Noor, dass sie sich bereits viel besser fühle, weil sie jemanden hat, der ihr zuhört und mit ihr über ihre aktuellen Nöte sprechen kann.
MEDAIR kümmert sich zusätzlich zur psychologischen auch um die physische Gesundheit der im Stadion untergebrachten Familien, indem wir Hygieneschulungen durchführen. In einer Unterkunft, in der viele Menschen auf engstem Raum leben, sind gute Hygienepraktiken und Körperpflege essentiell für die Gesundheit der Gemeinschaft. Die freiwilligen Gesundheitsmitarbeitenden aus der Gemeinschaft erklären unter anderem die verschiedenen Methoden des Händewaschens und wie wichtig die Verwendung von Wasser und Seife ist, um die Verbreitung von Keimen und Krankheiten zu verhindern.
Die Arbeit von MEDAIR in Aleppo wird durch finanzielle Mittel der Europäischen Union, der Deichmann Stiftung und privaten Spendern ermöglicht.