Wenn Irakerinnen und Iraker von ihrem Leben vor der Krise erzählen, beschreiben sie meist einen uns recht vertrauten, «normalen» Alltag: Kinder gingen zur Schule, Männer und Frauen zur Arbeit, Mahlzeiten wurden zubereitet und Familien kamen zusammen.

Mohammed erinnert sich noch gut an das letzte Familientreffen bei sich zuhause. Sein jüngerer Bruder hatte sich gerade verlobt und die gesamte Sippe feierte das junge Paar. Niemand wusste damals, dass es vorerst das letzte Fest im Familienkreis sein würde.

Denn mit der Normalität war es bei Ausbruch der Irak-Krise auf einen Schlag vorbei: Innert fünf Tagen brachten bewaffnete Gruppen im Juni 2014 Mossul unter ihre Kontrolle.

Drei Jahre lang sollte die Besetzung dieser wichtigen historischen Handelsstadt andauern.

Mittlerweile ist die Gewaltherrschaft Vergangenheit, die Stadt zurückerobert. Mohammed steht in der Küche seines Elternhauses in West-Mossul und erzählt: «In diesem Haus bin ich aufgewachsen, hier habe ich mein ganzes Leben verbracht». Als Mohammed acht Jahre alt war, starb sein Vater. «Mein Vater hinterliess uns bei seinem Tod dieses Haus.» Nur sieben Jahre später verlor der damals 15-jährige auch noch seine Mutter. Ab diesem Zeitpunkt waren er und seine Brüder auf sich alleine gestellt.

«Ich war quasi ein Waisenkind, als ich meine Frau kennenlernte und wir heirateten. Sie bedeutete mir alles», erinnert sich Mohammed mit einem Lächeln. «Später kamen unsere Kinder zur Welt und ich war ausser mir vor Freude, dass ich endlich eine eigene kleine Familie hatte. Mein Vater sorgte immer mit grosser Liebe für mich. Er ist mein Vorbild, genauso möchte ich mich selbst um meine Kinder kümmern. Ich will für die Familie da sein, will, dass wir für immer zusammenbleiben. Auch mein Vater wollte das. Ich war noch klein, als er starb. Aber ich weiss, dass dies sein grosser Wunsch war.»

Bis 2014 lebte Mohammed mit seiner Familie im Haus seines Vaters. Dann erfasste der Konflikt auch seinen Stadtteil.

«Wir lebten in ständiger Todesangst. Doch immer wieder wurden wir verschont. Bis heute kann ich kaum glauben, dass wir überlebt haben. Die zwei Löcher in unserem Dach stammen von Mörsergranaten. Meine Schwester war zuhause, als sie einschlugen. Kurz danach ergriffen wir die Flucht. Gerade rechtzeitig, denn im Juli 2015 erfolgte ein schwerer Luftangriff. Wären wir zu diesem Zeitpunkt im Haus gewesen, hätten wir nicht überlebt.»

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im Zuge der Rückeroberung Mossuls rund 130 000 Häuser zerstört. Acht Millionen Tonnen Trümmer sind noch heute über die Stadt verteilt. Zwischen 9000 und 11 000 zivile Opfer forderte der Kampf – unter anderem zwei Kinder der 57-jährigen Almass.

Gestützt auf einen Gehstock humpelt die Frau durch ihre Unterkunft, eisige Luft pfeift durch die Aussparungen, wo sich einst Türen und Fenster befanden. Wenn es Almass überhaupt gelingt, ein wenig Wärme im Innern ihrer Unterkunft zu erzeugen, entweicht diese bald wieder durch die Ritzen und Risse im bröckelnden Zement.

2017 war ihr Haus plötzlich von bewaffneten Kämpfern umzingelt gewesen. Almass und ihre 17-köpfige Familie hörten Schüsse und verschanzten sich in einer Ecke im Keller. Ein lauter Knall, ein Beben: das ganze Haus erzitterte – dann stürzte das Dach ein. Mehrere Kinder der Familie wurden schwer verletzt, zwei starben.

 

«Am Tag des Luftangriffs verloren wir zwei Kinder. Das eine war zehn, das andere elf Jahre alt. Sie mussten hungrig sterben. Vor dem Angriff hatten sie mich noch um Essen gebeten, aber ich hatte nichts, das ich ihnen geben konnte. Sogar die Kleidung, die wir trugen, wurde zerfetzt. Wir schrien und schrien und baten um Hilfe. Keiner wusste, was zu tun war. Dann kamen die Nachbarn und halfen uns.»

Nach dem Angriff floh die Familie in ein anderes Stadtviertel und verbrachte zwei Jahre in einem Zelt. «Seit zwei Wochen leben wir jetzt wieder daheim. Das Haus ist zwar noch beschädigt. Aber es ist unser Zuhause», freut sich Almass. Eine andere Hilfsorganisation hat mittlerweile das durch den Luftangriff zerstörte Dach saniert. «Immerhin habe ich nun ein Dach über dem Kopf. Ein Haus ist viel besser als ein Zelt. Wenn es noch etwas repariert werden könnte, wären wir noch besser geschützt.» Medair unterstützt die Familie, indem sie die Kosten für Fenster und Türen und andere kleinere Reparaturen übernimmt.

Viele Familien würden, wie Almass, gerne in ihre Häuser in West-Mosul zurückkehren, doch die hohen Kosten für den Wiederaufbau ihrer Häuser sind eine grosse Hürde.

Zurzeit lebt Mohammed mit seiner Familie und den Familien seiner drei Brüder im Haus seines jüngeren Bruders, nur ein Häuserblock von seinem Elternhaus entfernt.

«Hier habe ich meine Kindheit verbracht. In diesem Quartier lebten wir mit unseren Eltern. Diese Gegend bedeutet mir alles. Sobald unser Elternhaus repariert ist, ziehe ich mit meiner Familie und der Familie meines Bruders wieder ein. Meine beiden anderen Brüder werden mit ihren Frauen und Kindern hierbleiben.»

Die Küche, die durch den Luftangriff schwer beschädigt wurde, können die Medair-Teams leider nicht mehr reparieren. Aber sie sanieren die übrigen Bereiche von Mohammeds Haus und trennen sie vom anderen, unsicheren Teil ab.

«Ich möchte meinen Kindern eine Schulbildung ermöglichen und sie mit viel Liebe erziehen.»

Schon bald können Mohammed, seine Frau und ihre beiden Söhne in Mohammeds Elternhaus zurückkehren, an den Ort, an dem seine Wurzeln liegen und den er mit so schönen Erinnerungen verbindet. Hier möchte er ein Heim aufbauen, in welchem das Vermächtnis seiner Eltern durch die Fürsorge für seine Kinder weiterlebt.


Medair hilft bedürftigen Menschen im Irak, ihre zerstörten Unterkünfte zu sanieren. Auch versorgen wir Bedürftige mit medizinischen und psychosozialen Leistungen, schaffen Zugang zu Trinkwasser und Latrinen und verteilen wichtige Hygieneartikel.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Medair-Mitarbeitenden in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und nicht zwingend auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

 

OM UN Migration (June 2019), “West Mosul; Perceptions on Return and Reintegration among stayees, IDPs and Returnees

Associated Press (December 21, 2017), “Mosul is a graveyard: Final IS battle kills 9,000 civilians,