Katherine*, Mitarbeiterin Kommunikation bei Medair, über die zehn wichtigsten Lektionen, die sie in Afghanistan gelernt hat.

Noch ist dir nicht bewusst, dass 

1. … du absolut keine Ahnung hast.

Du denkst, du wärst im Bilde. Schliesslich hast du einen Uni-Abschluss, der dich für die humanitären Arbeit befähigt. Aber warte nur, bis du erst mal in einem abgelegenen afghanischen Dörfchen angekommen bist. Dann spürst du das Land, das drei Jahrzehnte Krieg hinter sich hat, am eigenen Leib. Du realisierst, dass die Theorien aus dem Studium mit der Realität nicht viel gemein haben. Es erwartet dich eine ganz neue Dimension von Weiterbildung in einer schwer überschaubaren Region.

2. … du sofort an dein Sicherheitstraining denken wirst, wenn es nachts raschelt, knackst oder knallt.

Soll ich in den Sicherheitsraum? Wo sind meine Bauchtasche und die Taschenlampe? Warum bleiben alle anderen in ihren Zimmern? Diese Fragen schiessen dir durch den Kopf. Bis du merkst, dass nur eine Tür ins Schloss gefallen ist oder Ähnliches. Daran gewöhnst du dich.

3.  … du schon bald eine neue Familie haben wirst.

Die afghanischen Mitarbeitenden werden zeitweise deine Eltern, Geschwister und Verwandten ersetzen. Sie werden dir genauso ans Herz wachsen, wie deine eigene Familie. Du wirst sie mit deiner fremden Art amüsieren. In ungestörten Momenten wirst du sie über kulturelle Gepflogenheiten ausfragen. Wenn sie dir von ihrem kranken Kind erzählen, wirst du besorgt sein. Und jeden Tag begrüsst du deine neue Familie so überschwänglich wie verloren geglaubte Freunde.

4. … du sehr krank werden und Schmerzen haben wirst.

Du wirst dich vor Schmerzen in deinem Bett krümmen und denken: „So will ich nicht enden“. Du stirbst nicht, versprochen! Im Gegenteil: Die Erfahrung macht dich stärker. Du wirst dich mit deinen Kollegen darüber austauschen und diese Gespräche sehr geniessen. Denn ihr werdet über dein heftiges Rumpeln im Bauch herzhaft lachen.

5. … du in tiefe Abgründe blicken wirst.

Du wirst leiden. Und das Leid dieser Welt aus nächster Nähe erfahren. Du wirst Geschichten hören und Dinge sehen, die dir jegliche Hoffnung rauben und dir nachts die Tränen in die Augen treiben. Du wirst deutlich deine Grenzen spüren und dich fragen, ob du auf dieser Erde auch nur irgendetwas bewirken kannst. Entweder du lässt dich von all dem Elend erdrücken oder du entscheidest dich für ein Leben in Hoffnung. Ich empfehle das Zweite.

6. … deine Körperpflege zuletzt kommen wird.

„Ich trage den ganzen Tag ein Kopftuch. Ist Haare waschen wirklich nötig?“ Solche Fragen wirst du dir stellen und mit deinen Kollegen eine “Abmachung” treffen: Wenn du zu stark “riechst”, sollen sie dir Bescheid geben. Dann stellst du dich für sie unter diese eiskalte Dusche. Aber wirklich nur für sie.

7. … deine Erfahrungen das Privileg deines Lebens sein werden.

Du wirst besondere Menschen treffen. Und täglich Dinge tun, die sich deine Freunde zu Hause kaum vorstellen können. Auf holprigen Pfaden auf dem Weg ins Projektgebiet wirst du dich fragen: „Warum ich? Warum habe gerade ich so viel Glück?“ – Wenn du dich mit Einheimischen unterhältst, wirst du dich fragen: „Womit habe ich es verdient, dich unterstützen zu dürfen?“

8. … sich deine Vorstellung von Bescheidenheit drastisch ändern wird. 

Kleider kaufst du ab jetzt zwei Nummern zu gross. Dazu trägst du bunte Kopftücher. Stolz wirst du von deinen ersten Erfolgen berichten, ohne zu stolpern in einer Burka herumzulaufen. Du wirst dich ernsthaft fragen, ob es in Ordnung ist, im Flugzeug neben einem Mann zu sitzen; schliesslich bist du nicht mit ihm verwandt. Es kann sogar sein, dass du die Flugbegleiterin bittest, dir einen neuen Platz – neben einer Frau – zu geben.

9. … sich so etwas wie Normalität nie einstellen wird.

Schon bald lernst du, dass alles, was du zum Leben brauchst, in einen einzigen Koffer passt. Und dass dort, wo du dich zum Schlafen hinlegst, für den Moment dein Zuhause ist. Immer wieder redest du dir ein, dass du bald mehr Zeit haben wirst – sobald deine To-do-Liste abgehakt ist. Aber du weisst genau, dass diese Zeit nicht kommen wird. Dein Leben in Sicherheit ist passé. Das wird dir nichts ausmachen. Denn genau diese Unsicherheit ist es, die dich lehrt, zu vertrauen und loszulassen.

10. … dein Leben nie mehr dasselbe sein wird.

Schon bald trittst du eine der härtesten und zugleich erfüllendsten Reisen deines Lebens an. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Jeder Ort wird dir ans Herz wachsen. Die Menschen werden Seiten von Dir erleben und Geschichten erfahren, mit denen andere nichts anfangen können. Auf deiner Reise wirst du viel über dich selbst und die Welt erfahren. Die Begegnungen und Erfahrungen werden dich für immer prägen. Dein Leben wird nie mehr sein, wie es einmal war.


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* Der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert.