Die Bedeutung von Schutz-Fallmanagement für ukrainische Geflüchtete in Polen

Die Bedeutung von Schutz-Fallmanagement für ukrainische Geflüchtete in Polen

von unserem Kommunikationsbeauftragten in Polen, Abdul Dennaoui

Geflüchtete aus der Ukraine haben ihr gesamtes Hab und Gut zurückgelassen und besitzen oftmals nur noch die Kleider, die sie am Leib tragen. An einem neuen Ort versuchen sie noch einmal, von vorne zu beginnen. Genau wie wir wünschen sie sich ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit. Es ist eine große Herausforderung, in einem fremden Land eine neue Heimat zu finden, ganz besonders, wenn es unfreiwillig geschieht und es gilt, schwerkranke Angehörige pflegen.

Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR befinden sich 22 Prozent der Geflüchteten in Begleitung mindestens einer Person mit besonderen Bedürfnissen – am häufigsten einer Person mit Behinderung (11 Prozent) oder schwerer Erkrankung (7 Prozent). 15 Prozent fliehen mit mindestens einer älteren Person und melden sich entsprechend häufiger für Bedarfe an medizinischer oder materieller Unterstützung.

Geflüchtete sind besonders schutzbedürftig, da sie oft Konflikte und Traumata erlebt haben und sich in chaotischen Lebenssituationen befinden. Deshalb trifft MEDAIR Maßnahmen, die zum erhöhten Schutz der Geflüchteten beitragen. Im Rahmen des Einsatzes in Polen wurden Schutzbeauftragte eingestellt und in den Bereichen Psychologische Erste Hilfe (PEH), Schutz vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (PSEA) und in Überweisungswegen geschult.

In Polen begleite ich Alina und Svitlana, Schutzbeauftragte für MEDAIR, auf einer Fahrt nach Rzeszów. Die beiden wollen Marina, einer 38-jährigen Geflüchteten aus der Ukraine, einen Hausbesuch abstatten. Sie ist mit ihren Eltern, ihren beiden Töchtern und ihren zwei Katzen vor dem Konflikt geflohen.

MEDAIR unterstützt Marina und ihre Familie durch Bargeldhilfe und individuelle Fallmanager, die den Kontakt zu lokalen Diensten und den Hilfsmaßnahmen der polnischen Regierung herstellen. Ihr schwerkranker Vater Alexander hat von MEDAIR einen Rollstuhl erhalten, der ihm größere Mobilität und Unabhängigkeit von Betreuungspersonen schenkt. Dadurch konnte seine Lebensqualität deutlich gesteigert werden. Marina wurde die Teilnahme an kostenlosen Polnisch-Kursen ermöglicht, in der Hoffnung, dass sie mit den entsprechenden Sprachkenntnissen aktiv Arbeit suchen kann.

Das ist ihre Geschichte:

Alina und Svitlana stehen seit einiger Zeit mit Marina und ihrer Familie in Kontakt. Der letzte Hausbesuch liegt schon ein paar Wochen zurück, doch sie halten sich über die Bedürfnisse der Familie telefonisch auf dem Laufenden. Die siebenköpfige Familie teilt sich zurzeit zwei Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Das eine Zimmer teilen sich Marina und ihre beiden Töchter, im anderen schlafen ihre Eltern. Insgesamt wohnen in dem Haus noch sieben weitere Familien, darunter einige ukrainische Studierende, die gelegentlich Zimmer für längere Zeiträume mieten.

Am Tag unseres Besuchs breitet sich gerade eine Kaltfront über Polen aus. Der Vermieter begrüßt uns an der Tür, und wir folgen Marina die Treppe hinauf in eines der Zimmer. Es ist das Zimmer der Eltern. Als Marina die Tür öffnet, sehen wir auf dem Bett ihren schlafenden Vater Alexander, den Rücken der Tür zugewandt. Seine Frau Alvitina sitzt an seinem Bett und bereitet ihm ein Käsebrot und eine Tasse Tee zu. Das Schlafzimmer ist klein und bietet gerade genug Platz für zwei Betten und einen Schrank. Die Familie empfängt uns herzlich, doch ich bemerke schnell, wie kalt es in dem schummrigen Raum ist.

Die 38-jährige Marina floh im März 2022 mit ihrer Familie vor dem Konflikt in der Ukraine. Es war eine beschwerliche Reise, die sie schließlich nach Polen brachte. “Schon bevor der Konflikt im Februar ausbrach, hatte mein Mann das Gefühl, dass etwas Schlimmes bevorstehe. Die Nachrichten beunruhigten uns, und wir sprachen bereits darüber, das Land eventuell zu verlassen. Ich wusste, dass ich meinen Mann und meinen Bruder würde zurücklassen müssen. Ich bin immer noch sehr traurig, ohne sie hier zu sein. Wir rufen sie rund fünfmal am Tag an, um zu hören, wie es ihnen geht. Manchmal sogar öfter, je nachdem, wie die Lage ist. Zu Hause waren wir aber einfach nicht mehr sicher. Meine Mutter konnte sich nur schwer damit abfinden, meinen Bruder zurücklassen zu müssen. Doch mein Vater war damals krank, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als ihn und uns in Sicherheit zu bringen. Ich habe das Gefühl, sie und alles, was ich je gekannt habe, im Stich gelassen und meinen Verstand gleich mit dazu verloren zu haben. Doch das Wichtigste in meinem Leben sind meine Kinder. Sie haben ihre ganze Zukunft noch vor sich. Deshalb beschlossen wir schon vor Beginn des Konflikts, fortzugehen. Wir brachen allerdings nicht sofort auf, sondern warteten, bis es sicher war”, erklärt Marina mit niedergeschlagenen Augen.

Mitten im Gespräch platzt Marinas Tochter Karolina energisch ins Zimmer. Alvitina fährt fort: “Anfang März wurde unsere Stadt in Dnipro zum ersten Mal Ziel von Luftangriffen ganz in der Nähe unseres Hauses. Wir warteten auf den richtigen Zeitpunkt und brachen auf. Wir nahmen nur das Nötigste mit: die Sauerstoffflasche meines Mannes, etwas Kleidung, Medikamente und unsere Katzen. Mein Mann weigerte sich, die Katzen zurückzulassen”, sagt sie und lacht dabei auf, während sie Karolinas Hand hält.

Marina erzählt weiter: “Wir brachen kurz nach den Angriffen auf. Auf dem Weg nach Polen kontaktierten wir einige Verwandte. Sie halfen uns bei der Suche nach einer günstigen Unterkunft, die wir schließlich auch fanden. Wir hatten aber nur wenige Ersparnisse und konnten es uns nicht leisten, länger als zehn Tage dort zu bleiben. Am 22. März zogen wir in dieses Haus, das wir zurzeit mit sieben anderen Familien teilen. Der Vermieter war sehr hilfsbereit. Er half Geflüchteten, die aus der Ukraine nach Polen kamen. Im Rahmen einer Initiative der polnischen Regierung ließ er uns vier Monate lang mietfrei hier wohnen und war sogar so nett, unseren Aufenthalt um einige Monate zu verlängern. Wir werden nochmals an einen neuen Ort ziehen müssen, aber wir wissen noch nicht, wohin.”

Marina und ihre Familie hatten angefangen, sich langsam an das Leben in Polen zu gewöhnen, da folgte ein weiterer Schicksalsschlag: “Auf der Flucht verschlechterte sich der Zustand meines Vaters. Er begann sich ziemlich krank zu fühlen, doch wir wussten nicht, was er hatte. Kurz darauf wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Er benötigte sofortige Hilfe. Doch wir konnten nichts tun. Als Geflüchtete haben wir nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Wir wussten nicht, was wir tun oder an wen wir uns wenden sollten. Außerdem ist das Gesundheitssystem hier anders aufgebaut, sodass es eine Weile dauerte, bis wir eine Klinik fanden, in dem wir ihn für eine umfassende Untersuchung und für Unterstützung anmelden konnten. Schließlich fanden wir eines in der Nähe. Mein Vater wurde auf die Warteliste gesetzt. Die fünf Monate, die wir warten mussten, schienen wie eine Ewigkeit. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Doch wir konnten nichts anderes tun, als zu warten. Irgendwann ging es meinem Vater so schlecht, dass er noch nicht einmal mehr laufen konnte”, erzählt die junge Frau traurig.

“Wir haben große Mühe, das Geld für all die Medikamente aufzubringen, die er benötigt. Doch wir sind dankbar, zumindest ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir kämpfen mit finanziellen Problemen und die Bedingungen, um weiter mietfrei hier wohnen zu können, sind streng. Strom ist teuer und für uns unbezahlbar, daher verzichten wir so weit wie möglich darauf. Meine Mutter und ich waschen beispielsweise nur einmal pro Monat Wäsche. Wir legen unsere Wäsche zusammen und waschen erst, wenn es dringend nötig ist. Unsere Zimmer zu heizen können wir uns auch nicht leisten. Deshalb lassen wir die Heizung aus”, erklärt Marina mit sorgenvollem Gesicht, wohl wissend, dass es bald kälter werden wird.

Ihre Mutter fügt schnell hinzu: “Wir legen Alexander immer eine warme Wasserflasche auf den Rücken. Ich schlafe ihm gegenüber auf einem separaten Bett. Nachts wird es sehr kalt. Manchmal sehe ich, wie er zittert, aber er sagt nichts. Da wir die Heizkörper im Schlafzimmer nicht benutzen können, ist diese Flasche die einzige Möglichkeit, ihn nachts in seinem Bett warm zu halten. Ich fülle die Flasche jeden Tag mit warmem Wasser und lege sie ihm unter die Decke an den Rücken. Den Deckel klebe ich mit Klebeband fest, damit kein Wasser ausläuft. Das ist jetzt unsere Realität”, sagt sie hilflos.

Alvitina zeigt uns einige aktuelle Fotos ihrer Heimatstadt. Man sieht die Zerstörung durch den Konflikt deutlich. Marina und ihre Mutter machen sich weiterhin Sorgen um ihre Lieben, die sie zurücklassen mussten. Inmitten der Schwierigkeiten, mit denen die Familie zu kämpfen hat, schafft es die kleine Karolina jedoch immer, gute Stimmung zu verbreiten und dafür zu sorgen, dass der Optimismus bei allen die Überhand behält. Als wir unseren Besuch beenden, danken Marina und ihre Familie MEDAIR für die Unterstützung.