Drei Monate nach den Erdbeben vom 6. Februar berichten MEDAIR-Mitarbeitende über die Menschen, die sie bei ihren Einsätzen in der Türkei und in Syrien getroffen haben.

Am 6. Mai ist es genau drei Monate her, dass sich das tödliche Doppelbeben in den frühen Morgenstunden des 6. Februar 2023 in der Südtürkei und in Syrien ereignete. Das erste Beben mit einer Stärke von 7,8 fand um 04:17 Uhr statt und brachte Gebäude fast bis auf ihre Grundmauern zum Einsturz. Das zweite Beben folgte nur wenige Stunden später und richtete noch mehr Verwüstungen an. Bis heute sind mehr als 59 000 Tote bestätigt.

In Syrien brachen unsere Kollegen sofort nach Aleppo auf, das durch die Erdbeben schwer beschädigt worden war. In der Region leisten wir seit 2015 dringend benötigte humanitäre Hilfe für bedürftige Familien. Zur gleichen Zeit flog unser Global Emergency Response Team in die Türkei und legte eine Route fest, auf der wir von Istanbul nach Gaziantep quer durch das Land fuhren.

In den drei Monaten, die seit den Erdbeben vergangen sind, haben wir betroffene  Familien in der gesamten Region unterstützt. In Syrien sanieren wir Kliniken und reparieren die Infrastruktur für sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Sowohl in der Türkei wie auch in Syrien gibt es für Betroffene eine bedingungslose Bargeldhilfe und wir bieten den Menschen psychische und psychosoziale Unterstützung an. Zudem versorgen wir Familien mit dringend benötigten Haushaltsgegenständen wie Decken, Planen, Zelte und Öfen. In der Türkei arbeiten wir dabei mit Partnern zusammen.

Viele Menschen, die wir seit den Erdbeben getroffen und gesprochen haben, sind immer noch zutiefst erschüttert von dem, was sie erlebt haben – aber es gibt auch Momente der Stärke und des Lichts. Hier sind einige der Geschichten, die sie uns erzählt haben.

Ein Vorarbeiter steht vor zwei Baggern, die schwer beschädigte Gebäude in Adiyaman, Türkei, abreißen.

Das Leben hat sich in einem Augenblick verändert

Vor dem Erdbeben war die türkische Stadt Adiyaman für ihre süßen Weintrauben bekannt, die als lokale Spezialität galten und durch eine Statue im Stadtzentrum gewürdigt wurden. Heute ist diese Statue von Schuttbergen umgeben. Ein Großteil  Adiyamans liegt in Trümmern, und Bautrupps arbeiten rund um die Uhr daran, die Gebäude abzureißen, die zu stark beschädigt sind, um sie wieder nutzen zu können.

“Vor dem Erdbeben lebten hier rund 50 000 Menschen”, sagt Ali, ein Beamter der Stadt. “Aber nach dem Erdbeben sind etwa 85 Prozent der Menschen weggezogen. Einige sind zurückgekehrt; sie wollen ihr Leben wieder aufbauen. Im Moment besteht das Problem in den Trümmern. Wegen den riesigen Schuttbergen können die Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren.”

“Vor dem Erdbeben war Adiyaman ein sehr sozialer Ort. Es gab viel Kultur. Die Lebensqualität war sehr hoch”, erinnert sich Ali. “Jetzt versuchen wir nur noch, am Leben zu bleiben.”

In den ersten Tagen und Wochen nach dem Erdbeben verteilten wir lebenswichtige Dinge wie Decken, Zelte, Öfen und Taschenlampen an Familien, die alles verloren hatten. Diese Gegenstände konnten den Verlust einer geliebten Stadt oder das Gefühl, in seinem eigenen Haus sicher zu sein, nicht wettmachen, aber sie konnten in sehr langen, dunklen Nächten Wärme und Licht spenden.

Nadia und ihr Sohn Barra in ihrem Zelt. Sie leben hier seit den verheerenden Erdbeben vom 6. Februar 2023.

Die Liebe einer Mutter ist stärker als die Angst

Nadia und ihre fünfköpfige Familie befanden sich in ihrem Haus am Stadtrand von Kahramanmaraş in der Türkei, als zum ersten Mal die Erde bebte. In den Häusern um sie herum begannen ihre Nachbarn zu schreien. Glas zersplitterte und das Geräusch von brechendem Beton erfüllte die Luft, als die Gebäude zu bröckeln begannen. Aber Nadia hatte nur eines im Kopf: ihren 22-jährigen Sohn Barra, der an einer zerebralen Lähmung leidet und sich nur eingeschränkt selbständig bewegen kann.

“Unsere Nachbarn sagten uns, wir sollten das Haus verlassen, weil es anfing auseinanderzufallen”, sagt Nadia. “Aber ich schrie: ‚Ich gehe nicht ohne meinen Sohn!‘”

Nadia hob ihren erwachsenen Sohn hoch und trug ihn nach draußen in Sicherheit. Sie saß mit ihm und ihren anderen Kindern stundenlang im Regen und hatte Angst, in ihr Haus zurückzukehren, weil sie befürchtete, dass es einstürzen könnte, während sie drinnen waren. Als einige Tage später die Zelte verteilt wurden, baute Nadia ihr Zelt auf einem Stück Ackerland in der Nähe des Hauses auf, das sie sechs Jahre lang ihr Zuhause genannt hatte. Sie hängte Luftballons an der Decke auf, um ihren Kindern beim Einschlafen etwas Schönes zum Anschauen zu geben. Das sei keine perfekte Lösung, sagt sie, weil sie wisse, dass ihre Kinder wieder nach Hause wollten.

“Wir werden wieder zurückgehen”, sagt sie und legt eine schützende Hand auf Barras Rücken. “Ich brauche nur Zeit.”

Wir arbeiten in der Türkei und in Syrien mit Partnern zusammen, um bedürftige Familien wie Nadias mit bedingungsloser Bargeldhilfe zu unterstützen. Dies ermöglicht ihnen, die dringendsten Bedürfnisse ihrer Familie zu befriedigen. So bleibt ihnen die Wahl und die Würde, selbst zu entscheiden, was ihnen am meisten nützt.

Kinder malen während einer Sitzung zur Förderung der psychischen Gesundheit in einer offiziellen Siedlung in Nurdağı.

Die Bedürfnisse im Bereich der psychischen Gesundheit sind weiterhin extrem hoch

In den Wochen nach den Erdbeben waren in den vom Erdbeben betroffenen Gemeinschaften Symptome psychischer Belastung allgegenwärtig. Die Menschen berichteten von Schlafstörungen, Alpträumen oder belastenden Erinnerungen an die Erdbeben und verbrachten immer mehr Zeit allein.

Das sind vertraute Gefühle für Fatima, deren drei Monate alte Tochter beim Erdbeben ums Leben kam, als eine Mauer über ihr einstürzte. Der Zwilling ihrer Tochter und ihre sieben älteren Kinder haben alle überlebt; sie leben jetzt in einem Zelt in einer offiziellen Siedlung in der türkischen Stadt Nurdağı. Doch die Trauer über den Tod ihrer Tochter lässt sie nicht los.

“Es dauerte nur Sekunden, bis sich unser Leben veränderte. Sekunden. Ich habe meine Tochter verloren. Ich habe alles verloren”, sagt Fatima. “Ich habe keine Lust, auszugehen oder Leute zu treffen. Ich esse, um zu überleben. Das ist alles.”

Fatimas Erfahrung, so herzzerreissend und erschütternd sie auch ist, ist eine von vielen in dieser Region. In der Türkei (mit Partnern) und in Syrien bieten wir psychische Gesundheitsversorgung und Aufklärungsveranstaltungen an, um die psychische Gesundheit und das psychosoziale Wohlbefinden der von den Erdbeben betroffenen Familien und Einzelpersonen zu fördern und zu verbessern.

 

"Mein Sohn hat versucht, aufzustehen und wegzulaufen. Er schrie sehr viel. Ich glaube, er war verängstigt. Unsere Nachbarn sagten uns, wir sollten das Haus verlassen, weil es langsam auseinanderfiel, aber ich schrie: 'Ich gehe nicht ohne meinen Sohn!' Ich hob ihn auf und trug ihn nach draußen. " Nadia, eine syrische Mutter, deren Haus bei den Erdbeben vom 06. Februar schwer beschädigt wurde.

Wie geht es mit unserer Arbeit in der Türkei und in Syrien weiter?

Unmittelbar nach den Erdbeben lag unsere Priorität auf der Bereitstellung humanitärer Hilfe für Familien, die gerade alles verloren hatten. Dazu gehörten Dinge wie Decken, Taschenlampen und Hygienepakete – Gegenstände, die den Familien bei eisigen Wintertemperaturen halfen, sich warm zu halten und ihnen Privatsphäre gaben. Unser Fokus liegt nun auf der Bereitstellung humanitärer Hilfe, die es den Menschen ermöglicht, sich in Würde zu erholen. Das bedeutet, dass wir uns um die längerfristigen Bedürfnisse kümmern werden, wie z. B. weiterhin psychische Unterstützung zu leisten, menschenwürdige Unterkünfte bereitzustellen und zu prüfen, wie Familien unterstützt werden können, die ihr Einkommen verloren haben. Was auch immer wir tun, wir werden weiterhin eng mit den Gemeinschaften, denen wir helfen, zusammenarbeiten, um Maßnahmen zu entwickeln, die ihren Bedürfnissen entsprechen, und sie und ihre Familien dabei unterstützen, ihr Leben wieder aufzubauen.

 

Die Erdbebenhilfe von MEDAIR in Syrien wird durch die großzügige Finanzierung durch das Amt für Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO), der Deichmann-Stiftung  und private Spendende ermöglicht.