Berichte
Auch verletzte Seelen brauchen Hilfe
vonDavid Verboom - 6 August 2019 -3Minuten Lesezeit
Der Alltag vieler syrischer Flüchtlinge wird von Ängsten, unverarbeiteten Gewalterfahrungen und dem schmerzlichen Verlust von Verwandten und Freunden begleitet. „Ich kann meinen Kindern nicht das geben, was sie zum Leben brauchen. In Syrien waren wir glücklich, aber jetzt fühle ich mich durchgehend niedergeschlagen“, erzählt mir Rashid, fünffacher Vater, der im Libanon lebt.
Wie viele andere Flüchtlinge harrt er mit seiner Familie in einer Zeltsiedlung in einem ihm vorher unbekannten Land aus. Eine Arbeitserlaubnis wird ihm verwehrt. Er schafft es kaum, den täglichen Bedarf seiner Familie zu decken. Als meine Kollegin seine Frau nach ihrer Situation fragt, antwortet diese nicht. Stattdessen verdeckt sie ihr Gesicht mit den Händen und fängt leise an zu schluchzen.
Acht Jahre dauert der Konflikt in Syrien bereits an, und er hat bei den Betroffenen tiefe seelische Wunden hinterlassen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) benötigen mehr als die Hälfte der Syrerinnen und Syrer professionelle psychologische Unterstützung.
Psychosozialer Stress bei Flüchtlingen wird stark unterschätzt, die Behandlung oft unterlassen. Denn diese Art von Verletzung ist in vielen Fällen nicht sichtbar. Oftmals wird davon ausgegangen, dass der psychische Schmerz von selbst verschwindet, wenn Menschen nicht mehr der Gefahr ausgesetzt sind, wegen der sie geflohen sind. Das ist aber nur selten der Fall.
Auch wenn die Zeit den akuten Schmerz zu lindern vermag, heilt sie nicht alle Wunden – schwere Traumata erst recht nicht. Vertreibung, eine ungewisse Zukunft, schlechte Nachrichten aus der Heimat – all das kommt nach dem Kriegstrauma während des Flüchtlingsalltages erschwerend hinzu.
Medair-Mitarbeiterinnen machen im Rahmen einer psychosozialen Therapiesitzung eine Übung mit einer Frau aus Syrien.
Auf psychischen Problemen lastet oft ein schweres Stigma, das Betroffene daran hindert, sich Hilfe zu holen. Eine Syrerin, die an einer unserer psychosozialen Therapiesitzungen teilnahm, brachte es auf den Punkt: „Niemand soll erfahren, dass ich hierherkomme. Was würden die Leute von mir denken? Etwa, dass ich ein Schwächling bin und meine Zeit mit unwichtigen Dingen verschwende, anstatt Geld aufzutreiben, damit meine Kinder essen und in die Schule gehen können.“
Weltweit leidet schätzungsweise jeder vierte Mensch im Laufe seines Lebens unter psychischen Problemen. 70 Prozent der Hilfsbedürftigen haben kaum Zugang zu professioneller Unterstützung. In humanitären Notlagen ist das psychische Leid erhöht, während es gleichzeitig schwieriger ist, Hilfe zu erhalten. Stigmatisierung, fehlendes psychologisches Fachpersonal sowie der schlechte Zugang zu medizinischen Leistungen vergrößern die ohnehin bestehende Versorgungslücke.
Indem wir psychosoziale Angebote in die humanitäre Hilfe integrieren, können wir Einzelpersonen helfen, ihre Probleme zu bewältigen und stärken gleichzeitig die gesamte Gemeinschaft. Kinder und Jugendliche profitieren von Sportaktivitäten und kinderfreundlichen Räumen, Frauen erhalten in sogenannten „Care Groups“ die Möglichkeit, sich zu vernetzen und auszutauschen.
Manche Menschen benötigen gezielte Angebote, um mit ihren Erlebnissen umzugehen. Mit ihnen führen wir psychosoziale Therapiesitzungen in der Gruppe durch. Eine Frau aus Syrien, die im Libanon an einer solchen Gruppentherapie teilnimmt, sagte: „In den Sitzungen darf ich reden und Dinge loslassen, die ich erlebt habe. Auch geben sie mir das Gefühl, dass ich nicht alleine dastehe. Viele andere Frauen kämpfen mit denselben Schwierigkeiten.“
Während einer psychosozialen Therapiesitzung im Libanon wurden die Teilnehmenden gebeten, einen Gegenstand anzufertigen, der einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Mariam bastelte eine Puppe, die ein dreijähriges Mädchen namens Sadir symbolisierte. Mariam erklärte, dass Sadir aus einem Trümmerhaufen herausgezogen und danach ins Krankenhaus gebracht worden war. Ihre Eltern hatten nicht überlebt. Jetzt wächst das Mädchen bei Verwandten von Mariam auf.
Die Spätfolgen des unbehandelten seelischen Leids können genauso verheerend sein wie die Krisen und Katastrophen selbst, die es ausgelöst haben. Natürlich können und sollen wir Notleidende weiterhin mit sauberem Wasser, medizinischen Leistungen und sicheren Unterkünften versorgen. Doch genauso ist es unsere Pflicht, ihnen zu helfen, die seelischen Trümmer aus dem Weg zu räumen.
Vielen Geflüchteten aus Syrien geht es ähnlich wie Rashid und seiner Familie. Zahlreiche Männer und Frauen sind jeden Tag hohem traumatischem Stress ausgesetzt, den sie an ihre Kinder weitergeben. Zwar sind viele Betroffene auch unfassbar stark und schaffen es oft, wieder auf die Beine zu kommen. Aber auch wenn das Geräusch der der Schüsse in ihren Köpfen nach und nach verhallt, bleiben emotionale Verletzungen zurück, die sie daran hindern, ein neues Leben aufzubauen.
Bitte unterstützen Sie mit einer Spende unsere Projekte in Krisen- und Konfliktregionen. Wir möchten weiterhin Menschen die Hilfe geben, die sie so dringend brauchen. Vielen Dank!
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