Chaos hat die Eigenschaft, jede Situation viel dramatischer erscheinen zu lassen, als sie wirklich ist, und all unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Wenn wir dies zulassen und sich alles nur noch um die Bewältigung des Chaos dreht, sind unsere Energiereserven schnell erschöpft und lenken uns vom Guten um uns herum ab.

Als Landesverantwortliche für Medair im Irak gab es Zeiten, in denen es sich anfühlte, als ob um mich herum nur noch Chaos herrsche: Es gab Situationen verschärfter Gewalt, einen humanitären Notstand, als syrische Familien aufgrund von gewaltvollen Konflikten aus Nordost-Syrien in den Irak flüchteten, und die Corona-Pandemie. Zudem dominierte in meinem Heimatland die Tötung wehrloser Afroamerikaner die Schlagzeilen. Ich beobachtete, wie sich das Chaos manchmal innerhalb des Teams, der erweiterten humanitären Gemeinschaft, der Region und manchmal auch in meinem eigenen Kopf ausbreitete. Es schien hinter jeder Ecke zu lauern. Immer wieder versuchte ich, diesen neuen Herausforderungen proaktiv zu begegnen, in der Hoffnung, die Situation unter Kontrolle zu bringen und die Folgen berechenbarer und die Unsicherheiten für das Team erträglicher zu machen.

Manchmal verlor ich dabei inmitten des ganzen Durcheinanders unsere Fortschritte und Erfolge aus den Augen. Als in einem unserer Teamhäuser ein Kabelbrand ausbrach oder als einer unserer Kollegen bei einem Autounfall schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, wusste ich kaum noch, wo mir der Kopf stand. In diesem Moment hatte mich das Chaos in seiner Gewalt und ich verlor aus den Augen, dass gleichzeitig unzählige andere Teammitglieder tagtäglich zuverlässig in den von uns unterstützten Kliniken arbeiteten, um die Gesundheitsversorgung von Tausenden von Vertriebenen zu gewährleisten.

Während wir wiederholt Teams unter chaotischen Umständen in Sicherheit bringen mussten, blieben andere zurück, um von Gewalt betroffenen Gemeinschaften Zugang zu sauberem Trinkwasser bereitzustellen. Und als viele Mitarbeitende aufgrund von Corona-bedingten Lockdowns nicht mehr zu den Menschen konnten, denen wir sonst helfen, zog auf der anderen Seite des Landes ein kleines, aber großartiges Team pflichtbewusst seine Schutzausrüstungen an und unterstützte weiterhin gefährdete Familien.

Während der sechs Jahre, in denen wir im Irak tätig waren, unterstützten wir mehr als 850.000 Menschen. Wir halfen jazidischen Gemeinschaften, die vor Angriffen bewaffneter Gruppierungen flohen, unterstützten Familien in Mosul, sich von den jahrelangen Konflikten zu erholen, und leisteten psychosoziale Unterstützung in Dörfern, die von Gewalt betroffen waren. Selbst inmitten eines chaotischen Umfelds haben wir es nie versäumt, humanitäre Hilfe für besonders gefährdete Menschen zu leisten.

Im Laufe meiner Arbeit habe ich gelernt, mich weniger ablenken zu lassen und mich mehr auf die Dinge zu konzentrieren, die ich tatsächlich kontrollieren kann. Ohne das, hätte das Chaos die Oberhand gewonnen und ich hätte die stetigen kleinen Erfolge und täglichen Wunder nicht gesehen, die es zeitgleich auch immer wieder gab – wir müssen uns nur die Zeit nehmen, diese zu erkennen.

Glücklicherweise ist das Chaos nicht von Dauer. Am Ende bleiben nur Glaube, Hoffnung und Liebe.


Der Einsatz von Medair im Irak wurde von USAID (Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung), UNOCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten), ECHO (Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe), Tearfund UK, Transform Aid International, Medical Teams International, der Stiftung NAK-Humanitas und privaten Spendern finanziert.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie dem globalen Unterstützungsbüro. Die Meinungen entsprechen ausschließlich den Ansichten von Medair und damit nicht unbedingt auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.